Verwaltungsvorschrift
des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz
über die Gewährung von Vollstreckungsaufschub gemäß § 455 Abs. 3, § 456 StPO
(VwV Vollstreckungsaufschub)
Vom 10. September 2008
I.
Allgemeines
- 1.
- Anwendungsbereich
- Diese Verwaltungsvorschrift gilt für Entscheidungen über die Gewährung von Vollstreckungsaufschub
- a)
- der Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde gemäß § 455 Abs. 3, § 456 StPO und
- b)
- des Jugendrichters als Vollstreckungsleiter gemäß § 455 Abs. 3, § 456 StPO in Verbindung mit § 2 Abs. 2 des Jugendgerichtsgesetzes ( JGG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. Dezember 1974 (BGBl. I S. 3427), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 8. Juli 2008 (BGBl. I S. 2894) geändert worden ist.
- Sie bindet auch den Jugendrichter als Vollstreckungsleiter.
- 2.
- Grundsatz der Einzelfallentscheidung
- Entscheidungen über die Gewährung eines Vollstreckungsaufschubs gemäß § 455 Abs. 3, § 456 StPO werden stets aufgrund einer einzelfallbezogenen Interessenabwägung getroffen. Die in Ziffer II genannten Gesichtspunkte sind dabei besonders zu berücksichtigen; ihre Aufzählung ist nicht abschließend.
- 3.
- Form der Entscheidung
- Die Entscheidung über den Vollstreckungsaufschub ergeht schriftlich und enthält eine Begründung sowie eine Rechtsbehelfsbelehrung.
II.
Strafvollstreckung gegen Erwachsene
- 1.
- Vollstreckungsaufschub gemäß § 455 Abs. 3 StPO
- Ein Vollstreckungsaufschub gemäß § 455 Abs. 3 StPO kommt insbesondere in Betracht, wenn
- a)
- durch den Vollzug der Freiheitsstrafe die konkrete Gefahr einer schwerwiegenden gesundheitlichen Schädigung für den Verurteilten entstehen würde,
- b)
- der Verurteilte unter einer schweren Krankheit mit geringer Lebenserwartung leidet,
- c)
- eine beim Verurteilten festgestellte schwere Krankheit in einer Vollzugsanstalt oder einem Anstaltskrankenhaus nicht sachgerecht ärztlich versorgt werden kann,
- d)
- der Strafvollzug voraussichtlich nicht bis sechs Wochen vor der Entbindung einer Verurteilten abgeschlossen sein kann oder
- e)
- die Entbindung einer Verurteilten im Zeitpunkt des Vollzugsbeginns weniger als acht Wochen zurück liegt.
- 2.
- Vollstreckungsaufschub gemäß § 456 StPO
- a)
- Erhebliche, außerhalb des Strafzwecks liegende Nachteile gemäß § 456 Abs. 1 StPO liegen regelmäßig dann vor, wenn durch den sofortigen Vollzug der Freiheitsstrafe dem Verurteilten voraussichtlich ein erheblicher gesundheitlicher oder wirtschaftlicher Nachteil entstehen würde, der durch einen bis zu vier Monate dauernden Vollstreckungsaufschub abgewendet oder wesentlich gemildert werden kann und andere verhältnismäßige Mittel zu seiner Abwendung nicht zur Verfügung stehen. Bei der Entscheidung sind auch erhebliche Nachteile vom Vollzug betroffener Familienangehöriger zu berücksichtigen. Ein Vollstreckungsaufschub soll nicht gewährt werden, wenn die Ursachen der zu erwartenden Nachteile leichtfertig vom Verurteilten gesetzt wurden.
- b)
- Soweit Tatsachen bekannt sind, die für einen Vollstreckungsaufschub gemäß § 456 StPO sprechen, ist der Verurteilte auf das Antragsrecht hinzuweisen. Ein Antrag ist nicht deshalb als gegenstandslos zu behandeln, weil der Antragsteller zwischenzeitlich die Haft angetreten hat.
- c)
- Vor der Entscheidung über den Vollstreckungsaufschub soll ein Bericht der Gerichtshilfe eingeholt werden (§ 463d StPO). Bei offensichtlich begründeten oder offensichtlich unbegründeten Anträgen oder einer unverhältnismäßigen Verzögerung der Strafvollstreckung kann hiervon abgesehen werden.
- 3.
- Ausschluss des Vollstreckungsaufschubs
- Ein Vollstreckungsaufschub gemäß § 455 Abs. 3, § 456 StPO ist nicht zu gewähren, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Strafvollstreckung besteht, insbesondere wenn
- a)
- das Vollzugsinteresse überwiegt, weil die Vollstreckung von Freiheitsstrafen von insgesamt mehr als zwei Jahren aussteht oder der zu vollstreckenden Freiheitsstrafe die Verurteilung wegen eines Verbrechens zugrunde liegt oder
- b)
- das Interesse an der öffentlichen Sicherheit überwiegt, weil die Verurteilung wegen einer der in § 112a Abs. 1 Nr. 1 oder 2 StPO genannten Straftaten erfolgte und bestimmte Tatsachen die Gefahr begründen, dass der Verurteilte in der Zeit des Vollstreckungsaufschubes weitere erhebliche Straftaten begehen oder fortsetzen wird. Die zu verbüßende Freiheitsstrafe muss bei Straftaten gemäß § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO mehr als ein Jahr betragen.
III.
Strafvollstreckung gegen Jugendliche und Heranwachsende
- 1.
- Anwendbare Regelungen
- Ziffer II gilt entsprechend für Jugendliche und Heranwachsende, auf die Jugendstrafrecht angewendet wurde; dem Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts soll im Rahmen der Ermessensentscheidung besonders Rechnung getragen werden.
- 2.
- Verfahren
- Entscheidungen über einen Vollstreckungsaufschub gemäß § 455 Abs. 3, § 456 StPO sind dem Jugendrichter vorbehalten; sie können nicht übertragen werden. Vor der Entscheidung hört der Jugendrichter die Staatsanwaltschaft an.
IV.
Gnadenverfahren
Ist ein Vollstreckungsaufschub gemäß § 455 Abs. 3, § 456 StPO nur deshalb ausgeschlossen, weil die Vollstreckung der Freiheitsstrafe oder Jugendstrafe bereits begonnen hat, ist – sofern der Vollzugsuntauglichkeit oder den drohenden erheblichen Nachteilen nicht bereits durch eine Entscheidung gemäß § 455 Abs. 4 StPO oder vollzugsrechtliche Maßnahmen wie Lockerungen oder Urlaub ausreichend begegnet werden kann – die Einleitung eines Gnadenverfahrens von Amts wegen zu prüfen oder gegenüber dem Staatsministerium der Justiz anzuregen (Ziffer III Nr. 11 der Verwaltungsvorschrift des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz über das Verfahren der Justizbehörden des Freistaates Sachsen in Gnadensachen [Gnadenordnung – GnO] vom 10. Dezember 1999 [SächsABl. 2000 S. 3, 346], die durch die Verwaltungsvorschrift vom 15. November 2001 [SächsABl. S. 1192] geändert worden ist und die zuletzt in der Verwaltungsvorschrift vom 10. Dezember 2007 [SächsABl. SDr. S. S 516] enthalten ist). Wird ein Gnadenverfahren eingeleitet, prüft die Gnadenbehörde, ob die vorläufige Einstellung der Vollstreckung angezeigt ist (Ziffer III Nr. 14 Buchst. b GnO).
V.
Inkrafttreten
Diese Verwaltungsvorschrift tritt am 1. Oktober 2008 in Kraft.
Dresden, den 10. September 2008
Der Staatsminister der Justiz
Geert Mackenroth